Im Schatten der Zeit: Henni Lehmann
Henni Lehmann, geboren 1862 in Berlin, war eine Frau, die ihr Leben nicht im Schatten der Konvention verbrachte, sondern im Licht des Engagements. Tochter des Arztes und liberalen Stadtverordneten Wolfgang Straßmann, wuchs sie in einer Familie auf, die den Geist der Freiheit und Verantwortung atmete. Früh fand sie ihren Weg zur Kunst und zur Gesellschaft, studierte an der Königlichen Kunstschule zu Berlin und heiratete Karl Lehmann, einen Rechtswissenschaftler, mit dem sie nach Rostock zog.

Henri Lehmann (um 1920), Gemeinfrei
Dort wurde sie Teil eines lebendigen Kreises von Intellektuellen und Frauenrechtlerinnen, unter ihnen Laura Witte. Henni Lehmann übernahm Verantwortung, leitete während des Ersten Weltkriegs die Göttinger Abteilung des Nationalen Frauendienstes und trat 1919 der SPD bei. Sie war nicht nur Künstlerin, sondern auch Autorin, Rednerin und eine Stimme gegen Antisemitismus.
Ihr Leben führte sie nach Weimar, wo sie sich in der Arbeiterwohlfahrt engagierte, und sozialkritische Romane schrieb. Doch ihr Herz schlug auch für die Insel Hiddensee, wo sie ab 1907 ein Sommerhaus errichten ließ. Dort gründete sie Initiativen für bessere Lebensbedingungen, unterstützte den Bau eines Arzthauses und schuf mit der „Blauen Scheune“ einen Ort der Kunst und Gemeinschaft. Die Blaue Scheune wurde zum Zentrum des Hiddensoer Künstlerinnenbundes, in dem Frauen wie Clara Arnheim und Elisabeth Büchsel ihre Werke präsentierten.
Henni Lehmanns Leben war geprägt von Mut, Fürsorge und dem unerschütterlichen Glauben an die Kraft der Gemeinschaft. Doch die dunklen Schatten des Nationalsozialismus nahmen ihr die Freiheit.
Und gerade hier, an diesem Punkt, öffnet sich ein neuer Gedankengang: Denn Henni Lehmanns Geschichte ist nicht nur die einer engagierten Frau, sondern auch die eines jüdischen Erbes, das sie trotz Konversion nie ganz abstreifen konnte. Es ist die Geschichte einer Identität, die von der Gesellschaft bedroht, aber zugleich von tiefer kultureller und spiritueller Bedeutung ist.
So führt uns ihr Leben hinüber zu einem Brief über das Judentum – über seine Kraft, seine Traditionen und die Fragen, die es in einer Welt voller Umbrüche stellt.
Rostock, 9. November 1905
Meine liebe Elisabeth,
Du fragst mich, was es bedeutet, in diesen Tagen jüdisch zu sein. Ich will es Dir in aller Offenheit schildern, so wie ich es erlebe.
Wir Juden sind seit Jahrhunderten Teil dieses Landes. In den letzten Generationen hat sich vieles gewandelt: die Emanzipation im 19. Jahrhundert öffnete uns die Tore zu Universitäten, Berufen und kulturellen Kreisen. Heute findest Du jüdische Ärzte, Rechtsanwälte, Professoren und Künstler, die das geistige Leben Deutschlands bereichern. In den großen Städten wie Berlin, Frankfurt oder München blühen unsere Gemeinden, Synagogen erheben sich stolz, und wir fühlen uns oft als selbstverständlicher Teil der Gesellschaft.
Doch zugleich bleibt ein Schatten. Antisemitische Stimmen sind laut, in Zeitungen, in Vereinen, manchmal sogar in den Parlamenten. Man wirft uns vor, „fremd“ zu sein, auch wenn wir längst deutsche Bürger sind, unsere Kinder in denselben Schulen lernen und wir für das Vaterland dienen. Manche Türen bleiben verschlossen, manche Blicke verraten Misstrauen. Es ist ein Leben zwischen Anerkennung und Ablehnung.
In den Familien spüren wir die Spannung: Wir wollen dazugehören, und doch halten wir an unseren Festen und Ritualen fest – Schabbat, Pessach, die Lichter von Chanukka. Diese Bräuche sind unser Herzschlag, sie geben uns Kraft, wenn draußen die Welt uns manchmal abweist.
Ich selbst empfinde es als eine doppelte Aufgabe: Wir sind Brückenbauer zwischen Tradition und Moderne. Wir tragen die Weisheit unserer Väter und Mütter, und zugleich gestalten wir die Wissenschaft, die Kunst und das Wirtschaftsleben dieses Landes. Es ist ein stolzes, aber auch mühsames Dasein.
Wenn ich durch die Straßen gehe, sehe ich die Zeichen beider Welten: die neue Synagoge mit ihrer goldenen Kuppel, die Cafés, in denen jüdische Schriftsteller diskutieren – und zugleich die Flugblätter, die uns verunglimpfen. Wir leben im Aufbruch, aber auch im Widerstand.
So, meine Freundin, bedeutet es zu Beginn des 20. Jahrhunderts jüdisch zu sein: ein Leben voller Hoffnung und kultureller Blüte, doch nie frei von der Last der Ausgrenzung. Wir tragen beides in uns – die Freude, Teil dieser Gesellschaft zu sein, und die Sorge, dass man uns doch nicht ganz dazugehören lässt.
In herzlicher Verbundenheit,
Deine Henri
Am 10. Oktober 1862 erblühte Henni Lehmanns Leben in Berlin – eine Blüte, die damals noch unbeschwert im Licht der Hoffnung stand. Niemand konnte ahnen, dass wenige Jahrzehnte später die jüdische Gemeinschaft in Deutschland einem unermesslichen Leid entgegensehen würde, das auch ihr eigenes Dasein überschattete.
Ihr Weg führte sie nach Hiddensee, nach Weimar, nach Berlin – getragen von Kunst, Engagement und dem Wunsch, Schönheit und Menschlichkeit zu bewahren. Doch Krankheit, Verfolgung und die dunkle Atmosphäre jener Jahre legten sich wie Schatten über ihr Leben. Am 18. Februar 1937 endete ihr Weg in der Wohnung ihrer Freundin Clara Arnheim.
Die Grußkarte „Blüte des Lebens“ mit ihrer weißen Blüte erinnert uns daran: jedes Leben beginnt wie eine reine Knospe, voller Möglichkeiten und Licht. Doch wie bei Henni Lehmann kann die Blume von äußeren Stürmen gezeichnet werden. Ihr Schicksal mahnt uns, die Zerbrechlichkeit des Lebens zu sehen – und zugleich die Würde, die in jeder Blüte bleibt, selbst wenn sie vergeht.
Die weiße Blüte zur stillen Trauerblume: ein Symbol für Reinheit, für Hoffnung, und für das Vermächtnis eines Lebens, das trotz aller Dunkelheit seine Spur im Licht hinterlässt.
Quelle:
Vgl. Wikipedia (₪): Henri Lehmann, zuletzt besucht am 13.12.2025
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2014: In Oslo (Norwegen) begann im „Nasjonalmuseet“ die Retrospektive über den deutschen Maler Caspar David Friedrich. Caspar David Friedrich inspirierte mich zu den Grußkarten „Nebel im Elbtal“, „Ostern im Greifswalder Bodden“, „Lindenblatt“, „Tannenbaum“, „Tannenbaum im Winter“ und „Zwei Engel betrachten einen Baum“.