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Dezember 21, 2025    
Ganztägig

Veranstaltungstyp

Rainer Maria Rilke war ein zutiefst religiöser Mensch, doch seine Gottesvorstellung war individuell, mystisch und fern von kirchlicher Dogmatik. Er suchte Gott nicht im Dogma, sondern in der Kunst, der Natur und der inneren Erfahrung.

Er gilt als einer der bedeutendsten Lyriker der Moderne. Seine Haltung zu Gott war komplex, vielschichtig und stark geprägt von persönlicher Suche und künstlerischer Sensibilität. „Er war kein Christ im konfessionellen Sinne“, sondern ein „homo religiosus“, wie ihn die Religionspsychologin Eva Wernick nannte.

Ende 1896 verfasste er das Gedicht „Der Narr“ für den Zyklus „Christus / Elf Visionen“.

Der Narr

Der Turm ruft in gewohnter Pose
den Mittag aus. Ins Sommerglühn
prallt schon die Kinderschar, die lose,
heraus vom Schulbankplattengrün:
So brechen wohl nach bangem Mühn
gefangne Falter freiheitskühn
aus dumpfer, grüner Forscherdose
und suchen eine rote Rose
und schwärmen werbend um ihr Blühn. –
Die Buben bilden kleine Truppen,
es wird gerauft, es wird marschiert,
wenn hurtig zu der Mutter Suppen
auch schon so mancher desertiert.
Die Mädel aber stehn wie Puppen
im Auslagfenster des Bazars
beisamm in bunten Plaudergruppen.
Und wagt ein Kleiner sie zu stuppen
am Zopfbandzipfel ihres Haars,
dann wenden sie sich: Welcher wars?
Und meistens flieht der junge Mars
vor ihrem Zürnen um die Ecke.
Und bei Geplauder und Genecke
verflattert mählich erst der Schwarm. –
Die kleine Anna, blond und arm,
packt jetzt als ob sie was entdecke
die nächste Freundin wie im Schrecke
und weist scheu flüsternd nach der Hecke
und ruft dann etwas. Wie Alarm
fährts in die Schar; der ganze Haufen
zerstiebt. Ein Stoßen und ein Laufen,
ein Wortgewirr, ein Stimmgeschnarr:
„Der Narr.“

„Kinder!“
Und geschwinder
stürzt er herbei.
Ins Geschrei.
„Halt.“
Seine hohe Gestalt
mit dem blassen Gesicht
ist immer dicht
hinter der Flucht.
Er sucht.
Mit den gekrallten
sehnenden Händen,
mit den kalten
Augen, die blenden,
will er sie halten,
will er sie wenden.
Flatternd in Falten
wallt er um die Lenden
der Mantel. Die Lode
hemmt ihm die Flucht.
Bleich wie im Tode
steht er und sucht.
Und die Kinder entsetzt
und in Hitze gehetzt
hasten vorbei.
Auch Anna. Und jetzt,
er schaut sie – ein Schrei.
Er bricht durch die Reih
und faßt sie und fetzt
ihr das Kleidchen entzwei:
„Steh!“
Und dem armen Kind ist zum Sterben weh.
Rings schaut es nach Hilfe. Doch schreckenjäh
ist der Schwarm in den Gassen und Gärten zerstoben.
Und bebend hebt sie die Augen nach oben
bang und beklemmt.
Hat er ein Wunder getan?
Sie staunt ihn an:
die Augen des Fremden sind ihr nicht fremd.
Und es überkommt sie ein großes Vertraun.
Ihr ist: als wär sie lang krank gewesen,
hätt müssen zur dumpfigen Decke schaun
und dürfte des lachenden Blicks Genesen
zum Himmel nun heben, zum maitagblaun.
Sie fühlt: er läßt seine Rechte sinken
auf ihren Scheitel und kost ihn still,
und sie hascht wie im Traum nach der fiebernden Linken,
weil sie sie küssen will….
Doch die Hand entflieht ihr hastig und heiß,
auf die langenden Händchen fällt eine Träne,
und die fremden Lippen fragen sie leis:
„Heißt deine Mutter nicht Magdalene?“
„Ja.“
Und die fremden Lippen fragen so warm:
„Ist sie sehr arm?“
„Ja.“
Und Lippen klingen wie Glockenerz:
„Hat sie viel Schmerz?“
„Ja.
Weil ich sie oft tief in der späten
Nacht noch sitzen und weinen sah.“
„Kannst du auch beten?“
„Ja.“
„Betest du denn auch für deinen Papa?“
„Ja.“
„Tu`s.“
„Aber wo ist mein Papa… weißt du`s?“
Und da hebt der Fremde das Kind empor.
Seine Stimme ist wie ein Vogelchor
der sich tief in erblühtem Jasmin verlor:
„Sag mir einmal das Wort noch vor!“
„Was?“
„Das.“
„Papa?“
„Ja.“
Und sein Ja ist ein jubelnder Siegessang.
Er küßt dem Kinde die Stirne lang,
er küßt dem Kinde die Augen blank;
sein Kuß ist Liebe, sein Kuß ist Dank.
Und er stellt das Kind wieder leis auf die Steine
und spricht: „Ich kann dir nichts geben, Kleine -„
Ein müdes Lächeln nur wirft er ihm zu:
„Ich bin ja viel ärmer als du….“
Es war ein Weinen, wie er das  sprach.
Und er winkt noch einmal leis mit der Hand
und geht. Er geht durch das heiße Land
wie ein Bettler im schlotternden Lodengewand
und doch wie ein König so stolz und groß.
Und sie haben ihn immer „der Narr“ genannt.
Und Anna steht lange, wie traumgebannt
staunt sie ihm nach,
dann stürmt sie nach Hause atemlos. –

Der Mutter Alles zu sagen, sie scheuts.
Doch plötzlich sagt sie beim Schlafengehn:
„Du, Mutter, ich hab einen Mann gesehn,
der war – wie der Mann am Kreuz….

Dieser Text ist Gemeinfrei.

Ein paar Erläuterungen

Rainer Maria Rilkes Gedicht „Der Narr“ aus dem Zyklus „Christus / Elf Visionen“ offenbart auf eindrucksvolle Weise seine persönliche, mystische Gottesvorstellung – eine, die sich fernab kirchlicher Dogmatik entfaltet und stattdessen in der inneren Erfahrung, im Mitgefühl und in der kindlichen Offenheit wurzelt. Der „Narr“, eine Christusfigur in zerlumptem Mantel, erscheint nicht als triumphierender Erlöser, sondern als leidender, liebender Mensch – arm, verkannt, aber voller zärtlicher Nähe. Er wird von den Kindern verspottet, gejagt, gefürchtet – und doch ist es gerade das kleine, arme Mädchen Anna, das in der Begegnung mit ihm eine tiefe Wandlung erfährt.
Diese Begegnung ist keine theologische Belehrung, kein Wunder im klassischen Sinn, sondern eine Offenbarung: Anna fühlt sich plötzlich gesund, getröstet, wie aus einem langen Fieber erwacht. Der „Narr“ spricht mit ihr über Schmerz, Armut, Gebet – nicht von oben herab, sondern auf Augenhöhe, mit einer Wärme, die heilt. Seine Fragen sind einfach, aber voller seelischer Tiefe: „Kannst du auch beten?“ – „Betest du denn auch für deinen Papa?“ – „Weißt du, wo er ist?“ In dieser kindlichen Zwiesprache offenbart sich ein Gott, der nicht richtet, sondern fragt, der nicht herrscht, sondern sucht.
Rainer Maria Rilkes Gott ist kein dogmatischer Herrscher, sondern ein mitfühlender Begleiter – einer, der sich im Schwachen zeigt, im Ausgestoßenen, im „Narren“. Der Mantel des Fremden flattert, seine Augen sind fiebrig, seine Hände sehnsüchtig – und doch liegt in ihm eine königliche Würde. Er geht „wie ein Bettler“ und zugleich „wie ein König“. Diese paradoxe Erscheinung spiegelt Rilkes tiefe Überzeugung: Das Göttliche offenbart sich nicht in Macht, sondern in Liebe, nicht im Triumph, sondern im Mit-Leiden.
Am Ende erkennt Anna in ihm „den Mann am Kreuz“. Doch der Dichter lässt offen, ob es sich um Christus selbst handelt oder um eine Vision, ein inneres Bild. Christus ist für ihn kein Dogma, sondern ein Symbol – ein Archetyp des göttlichen Menschen, der durch Liebe und Schmerz verwandelt. Der „Narr“ küsst das Kind, segnet es, fragt nach seiner Mutter, nach dem Vater, nach dem Gebet – und geht dann weiter, arm, aber groß. „Ich bin ja viel ärmer als du“, sagt er – und in diesem Satz liegt Rilkes ganze Theologie: Gott ist der Ärmste unter den Armen, und gerade darin liegt seine Größe.

So zeigt „Der Narr“ Rilkes Gottesbild in leuchtender Klarheit: ein Gott der Zärtlichkeit, der Nähe, der inneren Wandlung. Kein ferner Richter, sondern ein stiller Begleiter, der sich in der Begegnung offenbart – besonders in der Kindheit, im Schmerz, in der Liebe. Es ist ein Gott, der nicht erklärt, sondern verwandelt. Ein Gott, der fragt: „Kannst du beten?“ – und damit das Herz berührt.

(Dieser Text ist teilweise mithilfe von KI geschrieben worden.)

Infos zur Grußkarte:


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