Kaum hatte Rainer Maria Rilke die strenge Militärschule hinter sich gelassen – einen Ort, an dem man eher das korrekte Marschieren als das kunstvolle Versmaß erlernt – erklärte er sich selbst zum Literaten. Ganz offiziell, in einem Brief an seine Mutter. Denn jeder junge Dichter weiß: Der Weg zur Unsterblichkeit führt über die Bühne der Preisausschreiben.
So reichte er sein erstes Gedicht ein. Und siehe da – am 10. September 1891 erschien es tatsächlich in „Das interessante Blatt“, einer Wiener Zeitschrift, deren Titel wohl mehr verspricht, als die Anzeigen für Schnurrbartpomade und Korsetts halten konnten. Man kann sich den Stolz des jungen Mannes vorstellen: eben noch dem Drill entkommen, nun gedruckt zwischen den kleinen Kuriositäten des Alltags.
Doch René Rilke wäre nicht Rilke, hätte er sich mit diesem einen Triumph begnügt. Schon im Februar 1892 wurde ein weiteres Gedicht lobend erwähnt. Und dann – Trommelwirbel – widmete er seinem Lehrer Anton Effenberger ein Werk mit dem Titel „Die Waffen nieder“. Ein Friedensappell? Vielleicht. Eine subtile Kritik an der Handelsakademie? Wer weiß. Jedenfalls erschien das Gedicht zu Ostern 1892 in „Böhmens Deutsche Poesie und Kunst“ – ein Titel, der klingt wie ein schwerer Sonntagsbraten: traditionell, würzig, und mit nationalem Beigeschmack.
So begann die Laufbahn eines Mannes, der sich selbst zum Literaten erklärte, bevor die Welt es tat. Vielleicht liegt darin die eigentliche Kunst: sich selbst ernst zu nehmen, bevor andere folgen – mit einem Augenzwinkern und einem Gedicht in der Tasche.
Die surreale Grußkarte „Empfängnis“ aus Fadendesign wirkt wie ein Echo dieser frühen Selbsternennung. Sie zeigt, dass Geburt nicht nur biologisch, sondern auch geistig und poetisch verstanden werden kann: ein Moment, in dem etwas Neues ins Leben tritt – sei es ein Kind, ein Gedicht oder eine Idee. Rilkes erste literarischen Gehversuche gleichen dieser symbolischen Empfängnis: ein schöpferischer Akt, der aus dem Unsichtbaren ins Sichtbare drängt, zwischen Anzeigen für Pomade und Korsetts ebenso wie zwischen Fäden und surrealen Formen.
So wie die Karte das Geheimnis der Entstehung feiert, so feierte Rainer Maria Rilke seine eigene Geburt als Dichter – ein zartes, fast unscheinbares Ereignis, das doch den Keim für eine ganze Welt von Poesie in sich trug.
Quelle:
Vgl. Gunter Martens und Annemarie Fost-Martens: Rainer Maria Rilke, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 2008, S. 12 f.
