Die Eltern des Dichters Rainer Maria Rilke wirkten wie zwei Figuren aus völlig verschiedenen Welten. Ihre Gegensätze prägten nicht nur das häusliche Leben, sondern auch den inneren Kosmos ihres Sohnes.

Eltern von Rainer Maria Rilke (Gemeinfrei)
Sophia Entz (1851–1931), die Mutter, entstammte einem großbürgerlichen Umfeld und lebte mit der Leidenschaft einer Operndiva. Kunstliebend, religiös eifrig – manchmal bis zur Strenge –, war sie eine Frau, die Ordnung und Hingabe verlangte. Man konnte sie sich vorstellen, wie sie eine schief hängende Ikone sofort geraderückte, als müsse die Welt selbst durch ihre Hände ins Lot gebracht werden.
Josef Rilke (1838–1906), der Vater, träumte von einer glänzenden Militärkarriere, von Uniformen und Ehrenzeichen. Doch Krankheit zerstörte diesen Traum. Stattdessen fand er Arbeit in der Verwaltung der böhmischen Eisenbahngesellschaft – eine nüchterne Tätigkeit, die seiner Frau wenig imponierte. Für sie war es, als hätte er statt einer Offiziersuniform einen Fahrkartenentwerter nach Hause gebracht.
Aus dieser spannungsvollen Mischung von strenger Leidenschaft und enttäuschter Sehnsucht wuchs ein Dichter heran, der selbst zwischen den Welten wandelte – zwischen Ordnung und Traum, zwischen religiöser Inbrunst und poetischer Freiheit.
Wie die Eltern Rilkes zwei gegensätzliche Kräfte verkörperten, so zeigt die „Kirschblüte am Ast“ indirekt das Zusammenspiel von Gegensätzen: der feste, raue Stamm und die zarte, vergängliche Blüte. In dieser Spannung entsteht Schönheit – genau wie im Leben des Dichters, der aus den Kontrasten seiner Herkunft eine eigene poetische Welt erschuf.
Quelle:
Gunter Martens und Annemarie Fost-Martens: Rainer Maria Rilke, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 2008, S. 8
