In staubigen Dörfern Mitteleuropas wächst eine Pflanze, die auf den ersten Blick unscheinbar wirkt: der Gewöhnliche Andorn (Marrubium vulgare). Doch wer genauer hinsieht, erkennt in seinen filzig behaarten Blättern und kugeligen Blütenquirlen ein Relikt uralter Heilkunst – ein Kraut, das einst in den Gärten mittelalterlicher Klöster ebenso geschätzt wurde wie in den Apotheken der Antike. Seine Bitterstoffe, allen voran das Marrubiin, entfalten eine Wirkung, die tief in den Körper greift: schleimlösend, gallentreibend, verdauungsfördernd. Ein Kraut für die Übergänge – zwischen Husten und Heilung, Völlegefühl und Leichtigkeit.

Andorn (Zeichnung), Gemeinfrei

Doch die Geschichte des Andorns reicht noch weiter zurück. Archäologische Funde belegen seine Präsenz in Mitteleuropa bereits in der Jungsteinzeit. Und sein Name – Marrubium – klingt wie ein Echo aus dem Lateinischen, das wiederum auf ältere, möglicherweise ägyptische Wurzeln verweist. Hier öffnet sich ein faszinierender Vergleich: Denn auch das sogenannte „Kraut der Pharaonen“, meist mit Schwarzkümmel (Nigella sativa) identifiziert, war ein Allheilmittel der alten ägyptischen Heilkunde. In den Grabbeigaben Tutanchamuns fand man seine Samen, und Inschriften preisen es als „Heilmittel gegen alles außer den Tod“.

Doch nicht nur die Menschen schätzten den Andorn. In alten Überlieferungen heißt es, dass Elfen und Feen ihn als Schutzpflanze nutzen. Wo der Andorn wächst, soll die Luft klarer und die Schleier zwischen den Welten durchlässiger sein. Manche sagen, dass seine Blätter das Flüstern der Natur bewahren – und wer aufmerksam lauscht, hört Geschichten aus der Anderswelt.

Beide Pflanzen – der Andorn und der Schwarzkümmel – teilen mehr als nur ihre medizinische Bedeutung. Sie sind Ausdruck einer uralten Verbindung zwischen Menschen, Pflanze und Ritual. Während der Schwarzkümmel in den Tempeln Ägyptens geräuchert und als Öl verabreicht wurde, fand der Andorn seinen Weg in mittelalterliche Kräuterbücher, wo er als „Helfkraut“ gegen Lungenleiden, Würmer und Vergiftungen gepriesen wurde. In einem Kräuterbuch von 1692 heißt es gar, ein Sirup aus frischen Andornblättern sei „eine unübertreffliche Medizin gegen Husten und Lungenpfeifen“.
Beide Kräuter sind bitter – im Geschmack wie in ihrer Wirkung. Sie fordern den Körper heraus, regen ihn an, bringen ihn in Bewegung. Und vielleicht ist es genau das, was sie so wertvoll macht: Sie erinnern uns daran, dass Heilung nicht immer süß ist, sondern oft mit einem Hauch von Strenge beginnt. Wie ein Pharao, der Weisheit mit Würde trägt. Oder ein Bauer, der seinem Kind einen Löffel bitteren Sirups reicht – wissend, dass darin ein uraltes Wissen wohnt.

In der Volksmagie galt der Andorn als Pflanze der Reinigung und des Schutzes. Man band ihn in kleine Bündel, um böse Geister fernzuhalten, oder legte ihn unter das Kopfkissen, um von den Wesen des Waldes zu träumen.

So stehen sie nebeneinander, das Kraut der Pharaonen und das Kraut der Dörfer. Zwei Pflanzen, zwei Welten – und doch verbunden durch ihre Kraft, ihre Geschichte und ihre heilende Präsenz.


Quellen:

  • Vgl. Herausgeber: Dr. Johannes Gottfried Mayer, Prof. Dr. med. Bernhard Uehleke, Pfarrer Kilian Saum: Das große Buch der Klosterheilkunde. Neues Wissen über die Wirkung der Heilpflanzen / Vorbeugen, behandeln und heilen; Zabert Sandmann Verlag – München 2013, S. 40 f.
  • Vgl. Wikipedia (): Gewöhnlicher Andorn, zuletzt besucht am 19.06.2024
  • Vgl. Heidrun Johner-Allmoslöchner (): PFLANZE DES MONATS SEPTEMBER 2022 ANDORN – MARRUBIUM VULGARE, in: Naturwerkstatt-Artemisia – 06.09.2022, zuletzt besucht am 20.06.2024