Noch bevor Rainer Maria Rilke selbst die Bühne des Lebens betrat, hatte seine Mutter bereits ein schmerzvolles Kapitel hinter sich: eine Tochter, geboren und bald darauf verloren. Ob sie diesen Verlust jemals wirklich verarbeitete, bleibt ungewiss – sicher ist jedoch, dass sie René, wie Rilke zunächst genannt wurde, zum Mittelpunkt ihres Lebens machte.

Was tut man, wenn man sich ein Mädchen wünscht und stattdessen einen Jungen bekommt? Man gibt ihm einen Namen, der beide Welten verbindet: „Maria“.
Oft wird erzählt, René Maria Rilke habe Mädchenkleider getragen und dies sei ein Skandal gewesen. Doch in Wahrheit liegt hier ein Missverständnis: In jener Zeit war es üblich, dass kleine Jungen in den ersten Lebensjahren Mädchenkleidung trugen. So war auch René schlicht Teil dieser Tradition.
Zur Einschulung erhielt er schließlich seinen ersten „richtigen“ Jungenanzug – vermutlich trug er ihn mit dem gleichen Stolz, wie Kinder heute ihr erstes Fahrrad präsentieren.

Und wie ein Kind, das Linien zieht, ohne den Stift abzusetzen, bewegte sich René Rilke durch die frühen Irrungen seines Lebens. Hier lässt sich eine Brücke schlagen zur Grußkarte „Haus vom Nikolaus“ im Fadendesign: Auch sie erzählt von einem Spiel mit Regeln und Wegen, von der Kunst, mit einigen Fäden und Strichen ein ganzes Haus zu erschaffen – so wie René aus den Fäden seiner Kindheit ein poetisches Lebenshaus webte.

Während andere Kinder mit Bauklötzen spielten, lernte René früh, mit gesellschaftlichen Erwartungen zu jonglieren – und mit Eltern, die sich zunehmend voneinander entfernten. Ein Familiendrama in mehreren Akten, das selbst William Shakespeare hätte faszinierend gefunden.


Quelle:
Vgl. Gunter Martens und Annemarie Fost-Martens: Rainer Maria Rilke, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 2008, S. 8