Stell dir Prag im Jahr 1875 vor (im Geburtsjahr von Rainer Maria Rilke): eine Stadt voller Glanz, Geschichte – und einem bunten Sprachgewirr. Offiziell Teil der k.u.k. Doppelmonarchie Österreich-Ungarn, regierte hier ein Kaiser, eine Bürokratie und mindestens drei Meinungen zu jedem Thema.

Die deutschsprachige Minderheit bestimmte den Ton – ob im Rathaus, an der Universität oder im Amt für besonders komplizierte Angelegenheiten: Deutsch war die Sprache der Macht. Die Tschechen? Sie saßen daneben, beobachteten, und dachten sich: „Na wartet nur!“
Doch statt mit Mistgabeln zu drohen, griffen sie zu einem stilleren, aber mächtigeren Werkzeug: Papier und Feder. Sie schrieben, forschten, dichteten – und schlichen sich so beharrlich in die Welt der Wissenschaft. Denn Papier ist geduldig, und tschechisches Papier offenbar besonders klug.

So wurde die tschechische Sprache Schritt für Schritt salonfähig. Neue Helden traten in die Geschichte, Bibliotheken füllten sich mit Büchern, und die Deutschen mussten lernen, dass „Dobré ráno“ nicht nur ein Zungenbrecher, sondern bald auch Teil des Alltags war.

Und wie die tschechische Sprache damals langsam ihren Platz im Alltag fand, so erinnert uns die Grußkarte „Adventskerze im Schnee“ daran, dass auch ein kleines Licht im Dunkel beharrlich seinen Raum gewinnt – still, warm und leuchtend, bis es die ganze Umgebung verwandelt.


Quelle:
Gunter Martens und Annemarie Fost-Martens: Rainer Maria Rilke, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 2008, S. 7