Rainer Maria Rilke: Herbsttag
Im Artikel „Dach über dem Kopf“ beschrieb ich, wie ich zu dem Motiv „Bunte Kleeblätter“ gekommen bin. Während ich draußen auf der Bank saß und vor mich hinkritzelte, tauchte plötzlich in abstrakter Form Hausdächer auf und spontan fiel mir das Gedicht „Herbsttag“ von Rainer Maria Rilke ein.
Rainer Maria Rilke hatte sich im Sommer 1902 nach Paris zurückgezogen. Offenbar war die Ehe mit Clara Westhoff schwierig, seine Tochter Ruth, die gerade mal ein halbes Jahr alt war, konnte ihn nicht festhalten. Eigentlich ist Rainer Maria Rilke nach Paris, um über seinen sehr geschätzten Bildhauer Auguste Rodin eine Monografie zu schreiben, fand zwischendurch Zeit, um einige Gedichte zu verfassen, so auch das Gedicht „Herbsttag“, dass er am 21. September 1902 schrieb. Publiziert wurde das Gedicht in „Buch der Bilder“ (Erstes Buch, Zweiter Teil) 1906.
Die Form der Kleeblätter ist realistisch, die Farbwahl hingegen bunt und farbenfroh, ganz so, wie es zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit dem zahlreichen Aufkommen der verschiedenen Kunststile üblich war.
Herbsttag
Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren lass die Winde los.
Befiehl den letzten Früchten, voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin, und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.
Dieser Text ist Gemeinfrei.
1902: Rainer Maria Rilke verfasste am 21. September 1902 das Gedicht „Herbsttag“, dass im „Buch der Bilder“ publiziert wurde.